„Bing, bing!" oder Mit dem Mund lautgemalt: „Der Baron Bagge"
Matthias Schümann, Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2000

Zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Leben und Tod gibt es ein Reich dessen Existenz niemand beschreiben kann und das deshalb immer wieder Gemüter anregt, sich dem Phänomen literarisch zu nähern. Die Ergebnisse sind, je nach weltanschaulicher Provenienz der Dichter, unterschiedlich. Während Heinrich Böll seinen Helden nach und nach aus dem Zustand gnädiger Dämmerung schält, um ihm im Licht der Operationslampe schemenhaft das Ausmaß seiner zerstückelten Existenz vorzuführen, lässt Ambrose Bierce seine Figur einen letzten Fluchtversuch halluzinieren, bevor ihm der Strick die Halswirbel bricht.
Hier wie da braucht es nur kurze Zeit, um ein Leben, ein mögliches Schicksal passieren zu lassen, um dann derb in der dies- oder jenseitigen Welt aufzuschlagen. Alexander Lernet-Holenia lässt seinen Helden Baron Bagge am Leben und körperlich sogar weitgehend unbeschadet. Erspart er ihm damit ein hartes Schicksal? Wohl kaum. Denn so, wie die Figur sich zu Beginn präsentiert, erscheint jede andere Lebensbahn glücklicher. Alle Liebesbeziehungen gescheitert, das eigene Leben zerstört, hält er sich vornehmlich in Kneipen auf, um unbescholtenen Gästen seine Geschichte aufzudrängen.
Diese Geschichte führt zurück in die Zeit des Ersten Weltkrieges. Baron Bagge gerät in ein Scharmützel mit russischen Soldaten, aus dem die Truppe weitgehend unbeschadet hervorgeht. Zwar verlaufen Handlungen und Wahrnehmungen nicht mehr synchron, das Leben aber geht weiter. Man lässt sich feiern, und Baron Bagge wird das Schicksal zuteil, eine befreundete Familie zu treffen, deren Tochter sich nicht nur schön, sondern auch willig zur Hochzeit erweist. Doch müssen die Aufklärer noch in derselben Nacht weiterziehen. Sie gelangen zu einer golden Brücke, über die Bagge zu gehen sich weigert.
Er tut gut daran, denn die Brücke führt ins Reich der Toten. Schaudernd erwacht der Offizier und findet sich verletzt, die Truppe ausgelöscht. Die körperlichen Blessuren sind jedoch nichts gegen die emotionalen Qualen, die ihn fortan nicht mehr loslassen. „Traum!" dichtete Edgar Allen Poe, „dem phantasierenden Auge zeigt er weit/mehr Liebesglück Paradiesesfrieden, /als Hoffnungs schönstem Augenblick beschieden.“ Die Vision von erfüllter Liebe lässt das irdische Dasein des Barons kaum mehr lebenswert erscheinen, und so lässt er sich treiben im Jammer um das Unerreichbare.
Auch in der Hörspielfassung, die Alexander Schuhmacher im Auftrag des NDR inszeniert hat, wird tüchtig geraunt. Dies liegt weniger an Christian Redls vorzüglicher Darstellung des monologisierenden Barons, als vielmehr an den eigenwilligen Klangkulissen von Michael Schiefel. Denn die gesamte Geräuschkulisse stammt aus seinem Mund. Alles Pfeifen und Keuchen, der wehende Winterwind und wie das Grummeln der Geschütze hat er mit dem Mund produziert, und anschließend wurde das Ergebnis elektronisch bearbeitet. Das ist insofern konsequent, als sich Baron Bagge in Traumwelten aufhält, deren Interieur ausschließlich seiner Imagination entspringt, folglich mit Worten, Gedanken und Erinnerungen an die Leinwand der Imagination projiziert wird. In seinen stärksten Momenten erzeugt das Stück eine Atmosphäre irritierender Jenseitigkeit oder auch versonnener Melancholie, wenn den düsteren Reflexionen des Helden wehmütige folkloristische Gesänge unterlegt werden. In den schwächeren Momenten lässt es den Hörer staunen, wie große ästhetische Würfe mitunter erschreckend unspektakuläre Ergebnisse zeitigen. Da werden mit schnalzender Zunge Pferdehufe imitiert, kommentiert der Klangwart die den Baron verletzenden Kugeln mit „Bing, bing!" Dabei bietet das Stück kaum Anhaltspunkte für Ironie, so dass der Hörer sich in zwei Welten gleichzeitig aufhält. Zum einen fühlt er sich unwiderstehlich ins Jenseits der Handlung hineingesogen, zum anderen unsanft wieder herausgezogen. Und lässt das Stück auch Erinnerungen an schönere Träume wach werden, so bleibt doch der Hörer wenigstens an Leib und Seele unbeschadet.