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Alexander Lernet-Holenia

Väter und Kaiser - Autobiographischer Text von Alexander Lernet-Holenia

Väter und Kaiser - S. Fischer 1989

Alexander Lernet-Holenia: Väter und Kaiser. In: Peter Härtling (Hrsg.): Die Väter. Berichte und Geschichten. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1989 (Lizenzausgabe m. G. der S. Fischer Verlags GmbH, 1968).

Väter und Kaiser

Sigmund Freuds Schriften habe ich nur wenig gelesen, ja kaum angeblättert, doch bin ich mit einem seiner ersten Schüler befreundet gewesen, und dieser war es, der mich mit den Grundsätzen der Psychoanalyse weitgehend vertraut gemacht hat.

Eine der wichtigsten von Freuds Lehren zielt dahin, daß fast alle Knaben dazu neigen, sich ihren Vätern zu entfremden und ihre Zuneigung den Müttern entgegenzubringen, wohingegen die meisten Mädchen für ihre Mütter am Ende kaum mehr etwas übrig haben, den Vätern hingegen in einer fast inzestuösen - wenngleich freilich verdrängten - Liebe anhangen; und die Väter hinwieder bevorzugen die Töchter, die Mütter jedoch neigen sich, weit mehr als den Töchtern, den Söhnen zu.

Dies mag noch mit der Struktur der frühen Menschheit überhaupt, vor allem aber mit den ständigen Kämpfen, die in den ersten Menschenhorden um die Häuptlingswürde ausgetragen wurden, und mit dem sogenannten Mutterrechte zusammenhängen. Es ist jedoch eine eigentümliche Erscheinung, daß es auch gleichsam Stellvertretungen für die Eltern geben kann, zum Beispiel, was vor allem den Vater betrifft, in Gestalt der Vorgesetzten, der Behörden oder des Staates. Diese alle nehmen gleichsam Vater-, doch auch Mutterstelle bei den Menschen ein und ziehen Haß und Liebe des einzelnen auf sich, als ob sie, zumindest in dieser Beziehung, seine wirklichen Eltern wären; und in diesem Sinne liebt oder haßt der Staat auch bestimmte seiner Untertanen.

Allein es ist möglich, daß auch manche Herrscher, beziehungsweise ganze Dynastien, Vater- oder Mutterstelle bei einzelnen Familien einnehmen und die entsprechenden Gefühle bei diesen Familien auslösen. Das heißt aber, daß die Herrscher diesen Familien auch ihrerseits die korrespondierenden Gefühle entgegenzubringen nicht umhin können. Untersucht sind derlei Fälle, soviel ich weiß, jedoch noch nicht worden. Um so entschuldbarer wird es also vielleicht sein, wenn ich hier beizubringen suche, wie eigentümlich gespannt die Beziehungen meiner eigenen Familie zu unserem Kaiserhause und, vice versa, des Kaiserhauses zu meiner Familie schon seit langem gewesen sind.

Ich heiße Alexander Lernet-Holenia und bin zu Wien am 21. Oktober 1897 geboren, Leutnant der Reserve im k. u. k. Dragonerregiment Erzherzog Albrecht Nr. 9, Oberleutnant der Reserve im 10. Kavallerieschützenregiment (mot.) beziehungsweise Kavallerieregiment Nr. 1 der Deutschen Wehrmacht. Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Deutschen Bundesrepublik, Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, Deutsches Verwundetenabzeichen in Schwarz usw. Mein Vater ist Alexander Lernet, k. u. k. Linienschiffsleutnant, gewesen. Im Jahre 1900 aber hatte er, über Veranlassung der Admiralität, seine Charge niederzulegen gehabt und war am 30. Mai des Jahres Capitano di Lungo Corso, Kapitän Langer Fahrt, geworden. Im Ersten Weltkrieg hatte man ihn, mit dem Range eines Feldwebels, wieder einberufen. Wenig später allerdings war er einem Herzleiden erlegen. Denn er rauchte unzählige Zigaretten, er war, wie es im Gedicht heißt, »ein Gekränkter und hatte nur wenig Ruh«, er »hörte mir mit verhängter Stirne nächtelang zu«, und denke ich an ihn zurück, so scheint mir auch jetzt noch wie einst, »es dunkle rings das Zimmer wie immer arm um ihn«….

Meine Mutter war Sidonie Boyneburgk-Stettfeld, Witwe nach dem k. u. k. Obersten und Kommandanten des 7. Ulanenregiments Julius Boyneburgk-Stettfeld, geborene Holenia, Tochter des Hauptgewerken und Präsidenten der Bleiberger Bergwerksunion Romuald Holenia, ältesten Sohns des Hauptgewerken Franz Seraphikus von Hollénia. Die Holenias standen im Rufe, ursprünglich eine der – allerdings zahllosen - sogenannten besseren Familien Spaniens gewesen und zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges nach Mähren, dann aber über Ungarn nach Kärnten gelangt zu sein. Andern Überlieferungen zufolge aber stammten sie nicht ›de los Godos‹, das heißt von den Goten, die in Spanien eingefallen, sondern von den Slawen her, die in Mähren eingefallen waren, hatten sie sich doch Holenia de Alma geschrieben, und Alma kann sowohl auf spanisch ›Seele‹ wie auf mährisch oder slowakisch ›Apfel‹ heißen.

Doch so oder anders, wahrscheinlich hatten sie's schon in Spanien nicht, wie es hieß, mit der Generalscharge, sondern mit dem Bergbau, vielleicht mit dem auf Quecksilber, zu tun gehabt. In Mähren und Ungarn jedenfalls hatten sie's ganz sicher mit dem Bergbau zu tun, und gar in Kärnten heirateten sie in die ursprünglich Fuggersche, später Kilzerische Hauptgewerkschaft in Bleiberg ein und ließen von etlichen Hundert Knappen nach Blei, doch auch nach Gold, Silber und anderem graben. In Kärnten ›apparentierten‹ sich - wie der Ausdruck damals lautete - die Holenias mit so gut wie allen Familien der andern sogenannten ›Herren und Gewerken‹, aber wahrscheinlich kam es zufolge der Leichtlebigkeit der Mutter meines Urgroßvaters, einer Sternfeld, zu einem Bruch der ganzen Herkunft überhaupt, so daß es füglich gleichgültig ist, ob die Familie Holenia aus Alma in Spanien, einem allerdings selbst auf den genauesten Karten nicht aufzufindenden Ort mit wahrscheinlich bloß zwanzig Untertanen, einer Kuh und zwei Schweinen, oder aus Alma in Mähren gekommen ist, wo sie zwar vielleicht über etwas weniger Untertanen, dafür jedoch über zwei Kühe, wenngleich bloß über ein Schwein geboten haben mag.

Auf Einzelheiten aber, die wahrscheinlich noch weniger aufzuklären sein mochten als meine Herkunft von mütterlicher Seite, stieß ich alsbald, als ich der Geschichte meiner Familie von väterlicher Seite nachzuforschen begann. Fürs erste einmal waren da die Leute schon seit Menschengedenken von erstaunlicher diplomatischer Unbegabtheit gewesen, so daß sich an ihnen die Nichtbeachtung des besonders in Österreich so wichtigen Nestroyschen Ausspruches rächte: »Das hat der Mensch mit dem Wurm gemein, daß er nur kriechend vorwärtskommt.« So etwa hatte der Bruder meines Vaters ein Generalstabsoberst, mit dem auch sonst nicht gerade beliebten Erzherzog Franz Ferdinand einen Wortwechsel, welcher zur Folge hatte, daß mein Onkel den Generalstab ebenso verlassen mußte wie mein Vater die Kriegsmarine, worauf ihm ein Landwehrinfanterieregiment angehängt wurde, das er schon in den ersten Wochen des Weltkrieges so gut wie ganz verlor. Daraufhin, wie Stabsoffiziere und Generale gern zu tun pflegen, erschoß er sich. Noch schlimmer als ihm selbst jedoch war es seinem Vater, meinem Großvater, ergangen.

»Ich kenne bei uns Leute«, sagt jemand in Oscar Wildes ›Gespenst von Cantervilles, »die tausend Dollar dafür geben würden, einen Großvater zu haben.« Mein Großvater Norbert Lernet wurde am 17. September 1830 zum Kürassierregiment Auersperg assentiert, 1837 Unterleutnant und 1844 Oberleutnant. Als letzterer und als Brigade- und Divisionsadjutant des Divisionärs Feldmarschalleutnants Grafen Schaffgotsche machte er im Jahre 1848 den Feldzug in Italien mit und nahm an den Schlachten und Gefechten von Udine, Treviso, Vicenza, Curtatone und Montanara teil. Als Sekonde-Rittmeister mit dem Range vom 1. Januar 1849 übernahm er das Kommando der 3. Eskadron des Kürassierregiments Nr. 5 und machte im Winterfeldzug gegen die aufrührerischen Ungarn die Expedition auf Tokaj, die Schlacht von Kápolna, alle Gefechte bis zum Rückzug nach Preßburg und am 20. April die Schlacht von Komorn mit. Dabei rettete er mit achtzig Reitern einen Munitionstransport vor dem Zugriff der verfolgenden Husaren, wofür ihm am 20. Oktober 1850 durch Reskript Nr. 4134/D. K. die Zufriedenheit des Oberkommandos aus Pest mitgeteilt wurde; und auf dem Rückmarsch nach Ungarn hieb er mit seiner Eskadron die bei Pered in Bedrängnis geratene 2. Eskadron des Rittmeisters Schindlöcker heraus. Hierfür mit dem Orden der Eisernen Krone III. Klasse ausgezeichnet, wurde er als Träger dieses Ordens in den Militärschematismen von 1850 und 1851 geführt. Ab 1852 aber erscheint er ohne den Kronenorden in den Schematismen. Doch verschwand nicht nur die für seinen Rang unverhältnismäßig hohe Auszeichnung, an die übrigens auch der Ritterstand geknüpft war, sondern es verschwand auch er selber, wenngleich noch am 1. April 1851 zum Premierrittmeister befördert, ganz unvermutet aus der Kavallerie und tauchte beim 3. Gendarmerieregimente wieder auf.

Was mochte da vorgefallen sein? Die aktenmäßigen Unterlagen sowohl zur Verleihung wie auch zum Verluste seines Kronenordens fehlen nicht nur im Archiv des Ordens selbst, sondern auch in der Kaiserlichen Kabinettskanzlei vollkommen. Dieses Verschwindenlassen von Dokumenten, deren Inhalt das Ansehen des Herrscherhauses schädigen, die Fassade des mehr oder weniger schon petrifizierten Staates entstellen konnte, war eine Spezialität Österreichs.

Auch im Falle der Affäre des Kronprinzen, der in Mayerling den Tod gefunden hatte, fehlen ja so gut wie alle wichtigen Papiere. Die bezüglichen Methoden stammten noch aus der Zeit Metternichs, sie blieben bis zuletzt im Gebrauche, und selbst die Republik bediente sich ihrer noch, ja manchmal, zum Beispiel was die alte Armee und hin und wieder sogar was das Kaiserhaus betrifft, vertuscht sogar die Republik noch, oder man vertuscht wenigstens noch in der Republik die Schwächen der Monarchie.

Doch sollte es für meinen Großvater noch schlimmer kommen. Denn am 18. Juli 1855 zum 4. Gendarmerieregimente versetzt und am 15. Juli 1857 zum Major ernannt, wurde er in den Konduitelisten dieses Jahres zwar weiterer Beförderung noch für durchaus würdig befunden, 1859 aber heißt es in der Individualbeschreibung des 8. Gendarmerieregimentes, wohin er am 10. September 1859 transferiert worden war: »Die Qualifikation zur Beförderung kann dermalen nicht ausgesprochen werden, da der Herr Major gesetzwidriger Vorgänge beschuldigt und deren Untersuchung noch im Gange ist.« Am 3. September 1860 sodann suchte Erzherzog Wilhelm beim Kaiser an, den Major in den zeitlichen Ruhestand versetzen zu dürfen, und mit ihm wurden die Oberleutnants Alexander Appel und Johann Branlik, offenbar seine Zeugen bei einem Duell, suspendiert. Auch in betreff der gerichtlichen Untersuchung, beziehungsweise des gegen ihn angestrengten Offiziersprozesses, fehlen alle Akten.

Dieses am Ende zum Selbstzweck gewordene Vertuschen war aller Welt so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß man zuletzt auch in unserer eigenen Familie den Grund vertuschte, aus welchem mein Großvater ein so entehrendes Schicksal gehabt hatte. Es wurde bloß gemunkelt, er habe einen seiner Vorgesetzten geohrfeigt und sich dann mit ihm geschlagen; und manchmal behauptete man, sein Duellgegner sei ein Graf Kalnoky, der spätere Kriegsminister, manchmal aber wiederum, es sei der Kavallerieinspizierende Graf Pejatschewitsch gewesen. Doch war weder ein Kalnoky noch ein Pejatschewitsch unter seinen unmittelbaren Vorgesetzten zu finden. Lediglich durch die Erfindung einer cremefarbenen Offiziershose hatte sich jener Pejatschewitsch hervorgetan, und dann auch dadurch, daß er einem anderen meiner Onkel ein Husarenregiment anhängen wollte, das jener nicht mochte; so daß er von ihm, auf der Kasinotreppe, nicht gegrüßt worden war und mein Onkel seinen Abschied zu nehmen hatte, worauf er eine meiner Tanten heiratete und sich die letzten vierzig Jahre seines Lebens damit beschäftigte, buchstäblich nichts zu tun.

Den Schlußpunkt unter die Affären meines Großvaters jedenfalls, das einzige in dieser Sache noch vorhandene Dokument, setzte ein kalligraphisch geradezu prachtvoll abgefaßtes Schreiben des damaligen Kriegsministers an den Kaiser, welches da lautet:

»Centralkanzlei des Kriegsministers No. 455
Allergnädigster Herr!

Die Gendarmerie General Inspektion hat mit dem ehrfurchtsvollst anverwahrten Bericht hierher angezeigt, daß die gegen den Major Norbert Lernet des früheren 8. Gendarmerieregiments anhängig gewesene gerichtliche Untersuchung, bis zu deren Ausgange er über hierortigen Antrag mit der Allerhöchsten Entschließung vom 8. September 1860 in den zeitlichen Ruhestand versetzt wurde, nunmehr beendet sei.

Obwohl das Resultat derselben ein solches ist, daß dem Major Lernet nichts zur Last gelegt werden kann, was zu einer kriegsgerichtlichen Verantwortung desselben geeignet wäre, so glaubt dennoch der Gendarmerie General Inspektor diesem Stabsoffizier die volle Befähigung zum aktiven, insbesondere aber zum Gendarmeriedienste absprechen zu müssen, weil durch mehrfache Momente zweifellos dargetan ist, daß ihm die nötige Ruhe und Leidenschaftslosigkeit mangelt, dann daß er sich leicht überstürzt und unüberlegt handelt.

Ich erlaube mir somit Eure Majestät ehrfurchtsvollst zu bitten, die definitive Pensionierung des Majors Lernet allergnädigst anordnen zu wollen.

Franz Joseph Degenfeld FZM«