Einleitung zu "Die nächtliche Hochzeit"
In: Die nächtliche Hochzeit, Stiasny 1962, S. 5-12.
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"Unsere Zeit leidet an der Überschätzung ihrer selbst. Sie tut ganz so, als habe es vor ihr keine andere Zeit gegeben und als ob erst wir selbst die richtige, ja die einzig mögliche Anschauung von den Dingen gewonnen hätten. Dies ist umso seltsamer, als sie wie kaum eine andere Zeit so sehr ad absurdum geführt hat wie die unsere.“
Mit diesen Worten begann Alexander Lernet-Holenia seine Antwort auf die Frage, ob denn diese oder jene Erzählung „unsere mit ernsten Problemen belastete Gegenwart etwas angeht“. Und er setzte fort: „Einen gewissen Optimismus, auch wenn er auf Irrtümern fußt, muss man den Lebenden zugute halten müssen auf allen Gebieten, nur nicht auf dem der Kunst und Dichtung. Unsere Literatur täte gut, sich an die eigene Brust zu schlagen und sich zu gestehen, dass ihre Werke nicht immer auf der Höhe der Vergangenheit sind.“
Wie man sieht: Alexander Lernet-Holenia ist keiner, der die Selbstüberschätzung, an der unsere Zeit leidet, mitmacht; kein Autor, der so tut, als habe es vor ihm niemand anderen gegeben, der eine richtige Anschauung von den Dingen gehabt hätte, In einer Zeit. In der jeder der zu schreiben beginnt, überzeugt zu sein scheint, dass mit ihm die Dichtung anfängt, weil doch erst er die richtige, ja einzig mögliche Art zu dichten erfunden hat und alles, was vor ihm Dichtung hieß, falsch und verkehrt war, in einer solchen Zeit, die sich ihrer Väter schämt, klingt es fast schon wie ein Vorwurf und eine kritische Abwertung, wenn man die literarischen Väter eines Autors nennt. Das war in der Vergangenheit anders. Erst wenn man die Vorbilder kannte, von denen einer ausging, sich selber und sein eigenstes Können zu suchen, war auch der entscheidende Maßstab für eine echte Kritik gefunden.
Die Vorbilder, denen sich der junge Lernet-Holenia verbunden fühlte, von denen er gelernt hat, waren Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Rilke hat seine frühen Verse - "Pasiorale* (1921) und "Kanzonnair" (1923)' sind Rilke ausdrücklich gewidmet - stark inspiriert, sosehr dass Karl Kraus von Lernet mit einem Wortspiel geradezu als von einem Puerilke sprechen konnte. Aber das war nur für Lernets Anfänge gültig. - Mit Hofmannsthal verbindet ihn die Vorliebe für das barocke Theater und die Freude am Komödiantischen, sowie ein gewisses lyrisch-dramatisches Element seiner Bühnenarbeiten, aber auch ein ganz bestimmter Zug an seinen Romanen und Novellen, nämlich jenes seltsam Verzaubernde, das Personen und Geschehnisse zwischen Traum und Wirklichkeit, nächtigem Dunkel und klarer Tageshelle gleichsam schweben lässt. Der Lyriker hat sich jedoch in Folgenden Bänden: "Das Geheimnis Sankt Michaels" (1927) und „Die goldene Horde“ (1933) vom Einfluss Rilkes schließlich ganz gelöst. In diesen Büchern, schon standen z.B. die Verse, in denen die Dichterin Sappho die strahlenthronende
Aphrodite anruft; oder jene anderen, in denen Achill und Priamos über der Leiche Hektors trauern bis schließlich keiner mehr spricht und ihr Leid sich zum Leid der Welt weitet.
Die Schwermut des Abschieds wird in Versen und Strophen gestaltet. die nichts
mehr von Rilke haben, sondern schon den ganz eigenen persönlichen Ton
aufnehmen:
Wie kann denn das sein,
Dass du jetzt fort bist, und
Wie wird denn der Sommer sein
Und das Bienengesumm,
Wenn du fort bist, und
Wie soll denn der Phlox blühen
Ohne dich...
Und über allem lebt und webt die Liebe, in deren Becher der Wermutstropfen der Vergänglichkeit fällt. Wie Francois Villon fragt der Dichter "Wo ist der Winterschnee hin?"
Aber das Vergängliche weiß sich auch zugleich getröstet im Glück einer Liebe, die über Tod und Leben gesetzt ist. Und alle die tröstlich-glückhaften wie die schwermütig-bitteren Strophen gipfeln in jenem bekanntesten und gerühmtesten der frühen Gedichte Lernet-Holenias: "Die Weissagung des Teiresias', in dem der Seher Teiresias den heimkehrenden Odysseus die Wahrheit lehrt, dass jeder Abschied ein Abschied für immer ist:
Bist du fort, und hast nicht gewußt,
Daß es für immer war?
'Wenn du auch krank vor Heimweh bist
Und dein Herz verdorrt,
Immer, wenn einer fortgeht, ist
Er für immer fort.
Und in dem, was dir gehört,
Bist du, ich weiß nicht wer,
Immer wenn einer wiederkehrt,
Kennt ihn keiner mehr!
Ganz zu sich selbst hat der Lyriker schließlich in dem Versband "Die Trophäe" gefunden, dessen Mittelteil, der einige der stärksten Gedichte Lernets enthält' unter dem Titel "Die Titanen" (1945) auch gesondert erschienen ist. Seinen bisherigen Höhepunkt aber erreicht Lernets lyrisches Schaffen in dem Gedichtbuch "Das Feuer" (1949), in dem z' B' so hauchzarte Versgebilde zu finden sind wie das folgende:
Du, der ich damals
war, wo bist du geblieben!
Was bin ich wiedergekehrt!
Ich führe ein fremdes Leben,
ich habe ganz fremde
Menschen um mich. Und die Jahre
gehen. Wie lang
bist du schon nicht mehr im Hause! Wie lang
schon
warst du nicht wieder im Garten!
Aber auf einmal
rührt sich der Phlox wie vom Windsaum
eines Gespenstes. Warst du's?
Bin ich es selber gewesen?
Eines der erschütterndsten Gedichte ist jenes "Linos' überschriebene, das in knappen acht Zeilen die ganze Verzweiflung des Menschen vor der tragischen Vergeblichkeit alles Sagens und Leistens gestaltet:
Sind die Worte nicht zahllos, und was du im Haupte getragen'
war es nicht eine Welt, die du gerühmt und beklagt?
Nur was du wirklich gemeint hast, hast du nicht sagen
können Und nichts ist gesagt.
Tust du nicht zahllose Dinge? Nur was du am meisten,
was du seit jeher gewollt, denn es hätte daran
alles gehangen, den wirklichen Auftrag hast du nicht leisten
können! Und nichts ist getan.
Als Dramatiker trat Lernet erstmals 1926, als noch nicht Dreißigjähriger, hervor, mit seinen vielleicht auch heute noch, zumindest im Dichterischen, stärksten Dramen: „Demetrius“, „Saul" und „Alkestis“. Diese drei Stücke, für die er den Kleist-Preis erhielt, zeigen ihn auch am deutlichsten in der Nachfolge Hofmannsthals, ebenso wie die 1926 gespielten Lustspiele „Ollapotrida“ und „Oesterreichische Komödie“.
Die Alkestis-Tragödie, eines der Ur- und Grundthemen der Bühnenliteratur - auch Hofmannsthal hat den Stoff behandelt - wurde ihm zu einer der schönsten Darstellungen der reinen Liebeskraft. Alkestis vermag den Tod, vor dem selbst Vater, Mutter und Freund erbärmlich und feige versagen, kraft ihrer Liebe zu ertragen, ja das Sterben führt sie zu neuem stärkerem Leben. Die in ihrer Schlichtheit doppelt ergreifenden Worte der Alkestis über ihre Liebe, seien hier angeführt:
„Was ist denn das: nicht liebhaben bloß, sondern einen liebhaben? Kann es denn überhaupt sein, daß eine so liebt? Geht sie nicht bloß herum wie im Traum, es ist in ihr und niemand weiß davon und auf wen es geht, und auch sie selbst nicht? Aber wenn sie dann einen Mann sieht, so glaubt sie: er ist‘s, dem sie gut ist. Ich bin ja noch ein Mädchen, keine Frau, da ist Admet gekommen, da hat er wollen, daß ich ihn liebhabe als Frau' Aber bei Frauen ist es vielleicht anders, ich weiß es nicht, ich kann nur lieben, wie ein Mädchen liebt. So hab ich vielleicht auch diesen Gott lieb (Apollon), der da war, und der wiederkommen wird, aber was ist das ihm? Er denkt vielleicht, indem er mich hinwegnimmt' gar nicht an mich. Und ich? Denk' ich denn wirklich an den Gott, zündet er mich nicht bloß an mit seinem Feuer? Indem ich liebhab‘ denkt er nicht an mich und ich nicht an ihn. Ist das so schlecht? Ich hab' bloß lieb‘.“
Auch in seinen Lustspielen bleibt Lernet, bei allem Willen zum Amüsement, immer um tiefere Bedeutung bemüht. So hat er z. B. den bekannten biblischen Stoff von Potiphar und Josef zum Thema einer Komödie „Die Frau des Potiphar“ (1934)
genommen, die nach dem Krieg auch im Rahmen der Salzburger Festspiele aufgeführt wurde. Das Unterhaltsame des Stoffes wird zugleich in seinem geheimen Ernst erschlossen, und die Frau des Potiphar zuletzt zum Symbol der echten und gefühlsstarken Liebe „Es gibt keinen Gott außer der Liebe.“ sagt sie selbst. Und in dieser Erkenntnis hat sie ihren seelischen Höhepunkt erreicht. Auch in dieser Komödie siegt, wenn auch auf seltsamen Umwegen, der Glaube an das Recht des reinen Gefühls und der instinktsicheren Hingabe.
Dem Theater gehörte immer Lernet-Holenias besondere Liebe. „Theater steht dem Leben am nächsten“, sagte er einmal, „und das beste Theater ist notwendig das der lebendigsten Welt. Die Art, auf die ein Zeitalter Theater spielt, ist immer identisch mit der Art, auf die es sein Leben führt. Theatralische Kunst ist letzten Endes ein Savoir-vivre und ein großer Stil der Lebensführung.“
Wie sehr Lernet dem Theater ganz bewußt immer geben wollte, was des Theaters ist, geht mit aller Deutlichkeit aus Sätzen wie den folgenden hervor: „Theater ist nichts als Wirkung. Theater ist insofern die idealste Kunst, als es die natürlichste und selbstverständlichste ist. Theater ist lebendig oder tot: das ist das Ganze. Stücke sind nicht zu dichten, im besten Fall aufzubauen, ein Fahrwerk ist zu konstruieren, in das das Schauspielerische einziehen kann. Es gibt im Theater kein Dichten, sondern bloß ein Spielen und ein Zuschauen. Das Publikum, für das man da ist, zu kennen, wird das Entscheidendste sein. Ein Theaterstück. ist eine Ware, Dramatik ein Handwerk. Zum Theater gehört jemand von Welt, der weiß, wie er mit den Leuten umzugehen hat: das ist schon fast alles.“
Diese typisch österreichische, wienerische Freude am Theater mit all seinen komödiantischen Wirkungsmöglichkeiten findet in den Lustspielen ihren lebendigsten Ausdruck, von denen hier einige Titel genannt seien, die zumeist schon Stoff und Thema ahnen lassen: „Erotik“, „Parforce“, „Tumult“, „Kavaliere“, „Kapriolen“.
„Die nächtliche Hochzeit“, der Roman, der, lange Zeit vergriffen, nun hier neu gedruckt erscheint, ist Lernet-Holenias erste erzählende Arbeit (1930) und trägt alle Züge eines solchen Erstlings. Von der Handlung selbst soll in dieser Einleitung nicht gesprochen werden. Es muss genügen, darauf hinzuweisen, dass besonders die Kunst des Atmosphärischen, des Stimmungshaften, die des Dichters beste Romane auszeichnet, an den Höhepunkten des Buches überzeugend hervortritt, so zu Anfang bei der Schilderung der Sudre nach dem Mädchen Marusia auf einem kleinen polnischen Bauernhof oder der nächtlichen Fahrt zu der heimlichen Hochzeit in einem fast im Schlamm versinkenden Dorf. Für den literarisch Interessierten bietet sich die höchst reizvolle Gelegenheit, denselben Stoff in seiner Behandlung als Roman wie als Theaterstück zu vergleichen. Lernet hat nämlich ein Jahr vor dem Roman ein Drama publiziert, das dieselben Geschehnisse als sogenannte „Haupt- und Staatsaktion“ auf die Bühne bringt.
Der Roman „Die nächtliche Hochzeit“ ist, wie erwähnt, der Auftakt und Vorklang für eine ganze Reihe weiterer erzählender Arbeiten, mit denen Lernet-Holenia noch stärkeren Erfolg hatte als mit seinen Dramen und Komödien. Hierher zu zählen ist gleich der auf „Die nächtliche Hochzeit“ folgende Roman „Die Abenteuer eines jungen Herrn in Polen“ (1931), der auch verfilmt wurde, „Ljubas Zobel“ und der ebenfalls verfilmte, ungewöhnlich spannende, einen Kriminalfall behandelnde Roman „Ich war Jack Mortimer“. Von den übrigen erzählenden Büchern seien hier wenigstens genannt: „Die Standarte“ (1934), „Der Baron Bagge“ (1936), „Die Auferstehung des Maltravers“ (1936). Eines der dichterisch und künstlerisch stärksten Bücher Lernet-Holenias ist der 1941 erschienene, bald darauf aber verbotene Roman „Mars im Widder“, der erst nach dem Krieg (1947) wieder aufgelegt werden konnte, Der Titel „Mars im Widder“ meint das astrologische Symbol für Krieg. Die Handlung spielt zu Beginn und während des Polenfeldzuges. Abschied, Aufbruch und Katastrophe sind hier der epische Hintergrund für ein zartes, individuelles Geschehnis, das, rätselhaft und voll Geheimnis, sich hinter den Dingen abspielt, in einer Schicht des Seelisch-Schicksalhaften sich entscheidet, die menschlichen Willen oder wissen sich nicht erschließt. Großartig ist der epische Atem des ganzen Buches, etwa wenn mit Beginn des Aufmarsches der Staub aufgewirbelt wird gegen Osten, dem Heer gleichsam voranzieht, die Gesichter der Menschen bedeckt, die Landschaft einhüllt und schließlich zum Symbol des grausigen Geschehens wird, das beginnt. Unvergesslich sind einige der Höhepunkte dieser Prosadichtung: Wallmoden, von dem erzählt wird, kommt während des Polenkrieges in ein verlassenes Haus und findet dort ein altes italienisches Buch, das sich bei einer Stelle aufschlägt, wo ein venezianisches Liebeslied steht, das den lebenden im Nu im nu verzaubert und hinaushebt aus dem Grauen in eine Welt jenseits von Raum und Zeit. Oder welche geheimnisvolle Wiederholung des Geschicks, wenn er in einem halb zerstörtem Gutsgebäude vor einem Spiegel ein Mädchen sitzen findet, das er nie gesehen hat, dessen Schönheit aber zu ihm spricht und ihn anrührt wie ein längst Geahntes und Erwartetes.
Die vielen Kurzgeschichten und Erzählungen Lernet-Holenias von denen die Bände „Die neue Atlantis“ (1935), „Spangenberg“ (1946), „Der siebenundzwanzigste November“ (1946), und vor allem „Der zwanzigste Juli“ (1947) erwähnt sein, knüpfen in Gestaltung und Stil vielfach an die altitalienische Novelle und die klassische Erzählkunst Kleists an. Es ist viel Schwermut und Trauer, viel Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen in Lernet-Holenias Büchern. Das oft missdeutete und gelegentlich auch missbrauchte Wort von Adel und Untergang ist, richtig verstanden, nirgends berechtigter als vor diesem Lebenswerk, in dem über allem Nieder- und Untergang zuletzt doch immer die Liebe und Schönheit den Sieg davontragen, und menschliche Schicksale nie ohne den Adel des Geistes und der Seele bleibt.
Ein Aphorismus Lernet-Holenias lautet: „Die Dichter haben vergessen, daß sie Grandseigneurs sein sollen. Sie sprechen zu den Leuten wie zu ihresgleichen, statt auf die Art der Leute“. Er selbst hat das nie vergessen. Auch wenn er – sehr mit Recht – als Lyriker immer wieder und immer mehr wie zu seinesgleichen gesprochen hat, weil, wer die Lyrik zu erfassen vermag, immer einer „seinesgleichen“ zu sein muss – in seinen Dramen und Romanen sprach er – willentlich und umso bewusster „auf eine Art der Leute“. Aber er blieb immer, was er sein wollte: ein Grandseigneur.