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Alexander Lernet-Holenia
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Narration als Wunscherfüllung

Erzählstrategien und deren Funktionalisierung im Prosawerk Alexander Lernet-Holenias (1897-1976)

Vorgelegt am Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München bei Prof. Dr. Volker Hoffmann (SoSe 2003).


In der Korpusstudie zum Erzählwerk Alexander Lernet-Holenias wird ein Erzählmodell entwickelt, das - gestützt auf die Auswertung rekurrenter Textdaten - das gesamte erzählerische Werk des Autors adäquat zu beschreiben versucht. Die Grundthese der Arbeit ist, daß Lernet-Holenias Prosawerk durchweg von einer Erzählstrategie bestimmt wird, die primär darin besteht, Defizienz in der dargestellten Welt und in der Identität der Figuren durch narrative Sinnkonstruktionen nachträglich umzudeuten oder kompensatorisch zu bewältigen. Narration erfüllt - zumindest sofern es sich um Binnen-Ich-Erzähler handelt, die damit ihre eigene Defizienz bewältigen - somit die Funktion einer "Wunscherfüllung": Was in der Realität der dargestellten Welt nicht erreicht werden kann, schafft sich der Erzähler durch den Erzählakt selbst. Damit weist dieses Erzählverfahren Analogien zu Freuds Konzept der "Traumarbeit" auf, ohne daß eine Äquivalenz von Literatur und Unbewußtem behauptet wird. Methodisch rekurriert die Untersuchung u.a. auf G. Genettes semiotische Klassifikation der narrativen Instanzen ("Die Erzählung", dt. 1994).

Das erste von drei Großkapiteln beschreibt Defizienzerfahrungen innerhalb der Korpustexte auf den Ebenen der Figuren (z.B. Defizite bei der Namenszuordnung, der Genealogie, den Partnerbeziehungen, dem Bewußtsein und der Autonomie der Protagonisten), der Normen und Werte (v.a. Verfall der ständischen Ordnung und der traditionalen Werte im Anschluß an den Zusammenbruch des Habsburgerreichs) sowie des Erzählens selbst (konkurrierende Handlungsmotivierungen bzw. Sinnstiftungsangebote, Relativierung der Fiktionalitäts- und Textgrenzen). Ergänzt werden diese korpusübergreifenden Untersuchungen durch drei exemplarische Einzeltextanalysen (Der Baron Bagge, Die Standarte, Der Mann im Hut), die über die themenrelevanten Aspekte hinausführen und auch signifikante Unterschiede der verschiedenen Fassungen funktionalisieren (Entschärfung mißverständlicher Textpassagen, nachträgliche Stilisierung zu Widerstandstexten etc.).

In Kapitel 2 werden textinterne Bewältigungsversuche dieser Defizienzen wiederum korpusübergreifend vorgeführt und durch Textanalysen unterfüttert (Jo und der Herr zu Pferde, Der Graf von Saint-Germain, Der Graf Luna). Auf Figurenebene scheitern solche individuellen Stabilisierungsversuche (genealogische Forschung, normabweichende Partnererotik, hochstaplerische oder resignative Selbstbehauptung) ebenso wie auf der Ebene der Normen und Werte Restaurationsversuche und die Regression in traditionelle Ordnungsstrukturen (Adel, Katholizismus, Militär und "Reich"). Dabei steht das Scheitern persönlicher Identitätsfindung auf Figurenebene exemplarisch für das Ende der Donaumonarchie wie auch zugleich für die Auslöschung des Reststaates Österreich zwanzig Jahre später. Angesichts des Scheiterns aller Kompensationsstrategien innerhalb der dargestellten Welt bleibt allein die Narration, die mittels Umkodierung der Defizite in Sinnhaftigkeit die erwünschte Bewältigung der generellen Defizienz leisten kann.

Kapitel 3 untersucht, wie in autobiographischen Sinnstiftungsakten die defizienten Lebensentwürfe umgeschrieben und die kontingenten Ordnungs- und Wertsysteme durch Transzendierung, Mythisierung und Historisierung stabilisiert werden. Unbeeindruckt von dem in der Realität der dargestellten Welt herrschenden Todesprinzip, wird in phantastischen Umsemantisierungsakten dem gescheiterten Lebenslauf nach dem Vorbild der genialischen Passionsgeschichten exemplarische Einzigartigkeit zugeschrieben, eine Umwertung, die vor dem Tod nicht haltmacht, der emphatisch zum singulären, individuell sinnvollen Ereignis uminterpretiert wird. Analog wird auf kollektiver Ebene mit sinnstiftenden Transzendenzkonstruktionen und ordnungsstiftenden Geschichtsmodellen verfahren. Dies gilt auch und besonders für die späten historischen Texte (Prinz Eugen, Naundorff, Das Halsband der Königin, Die Geheimnisse des Hauses Österreich). Der "Wunsch", der hier durch Narration erfüllt wird, ist einerseits Kohärenz und Sinnhaftigkeit von "Geschichte", andererseits die exklusive Sinngebungskompetenz von "Literatur" gegenüber "Geschichtsschreibung". Überboten wird dieses Modell schließlich noch in den beiden Collagetexten Die wahre Manon und Der wahre Werther, wo Defizienz und Scheitern als notwendige Voraussetzung von Kunst in einer Rahmenerzählsituation zu bestehenden Texten der Weltliteratur hinzukonstruiert werden.

Dieses œuvretypische Erzählverfahren der Umkodierung von Defizienz reagiert auf die zentrale reale Defizienzerfahrung des Literatursystems, dem die Texte angehören: auf das traumatische Ende des Habsburgerreichs 1918, das sich für Lernet-Holenia 1938 nochmals wiederholt. Damit ordnet sich Lernet-Holenias Gesamtwerk in die resignative Reaktion einer Vielzahl österreichischer Autoren verschiedenster ideologischer Ausrichtung ein (z. B. Joseph Roth, Leo Perutz, Friedrich Torberg, Max Mell, Friedrich Schreyvogl, Karl Heinrich Waggerl, Bruno Brehm, Mirko Jelusich), die auf die politische Katastrophe mit der rückwärtsgewandten Utopie des Habsburg-Mythos antworten.

Abgeschlossen wird die Arbeit durch eine umfangreiche Personalbibliographie, die sowohl unterschiedliche Auflagen und Fassungen der selbständig erschienenen Romane und Erzählungen als auch eine große Zahl unselbständig erschienener Texte berücksichtigt.