Alexander Lernet-Holenia: ein Komplex
Notizen zu "Der Graf von Saint-Germain"
von Annie Reney und Maria Felsenreich
"Ich kann mich nie hingeben, weil ich mich nie ganz besitze", sagte Lernet-Holenia einmal. Kaum ein Satz, den Lernet-Holenias Freunde im Gedächtnis aufbewahren, charakterisiert eine wesentliche Facette seiner Persönlichkeit so treffend: die distanzierte Haltung, die er der Umwelt, auch den vertrautesten Menschen gegenüber einnahm. Kaum ein Bonmot - und es sind ihrer viele in Lernet-Holenias Werk zu finden - verschafft einen so direkten Zugang zu dem Komplex von Themen, die dieser große österreichische Erzähler, Dramatiker und Lyriker immer wieder neu und faszinierend abgewandelt hat. Die folgenden Notizen zum "Grafen von Saint-Germain", Lernet-Holenias wahrscheinlich vieldeutigstem Roman, mögen Hinweise geben, womit sich die Literaturkritik auseinandersetzen könnte. Denn Lernet-Holenias Werk, bisher nur ungenügend behandelt, nur in Ansätzen analysiert, wartet noch auf eine umfassende Würdigung.
Das Dämonengefecht:
An den Beginn des Romans "Der Graf von Saint-Germain", hat Lernet-Holenia in der ersten Niederschrift ein Gedicht des Untergangs gesetzt, das jedoch in keiner der bisher erschienenen Ausgaben enthalten ist:
Ich sah, auf Adlern reitend, geharnischte
Dämonen streiten, sah die gespenstischen,
die leeren Helme, sah die leeren
Panzer sich rühren wie Gliederpuppen.
Ich sah die Zügel, die von den Schnäbeln zu
den leeren Handschuhn gingen, ich sah, vom Schlag
der langen Sporen, die an keinen
Fersen saßen, die Federn stieben.
Ich sah die leeren Ärmel aus goldenem
Brokat, im Flugwind prasselnd, die Bogen ziehn,
ich hörte Pfeile mit gehöhlten
Spitzen schrillen und Sehnen klingen.
Ich sah Kleinode drohen, den Schulterschutz
wie Schwingen schlagen, hörte die Rüstungen
aus Kuhhautschuppen wie zermalmtes
Eis an wogenden Ufern klirren.
Ich sah die Adler steigen und sinken, sah
sie sich zerfleischen, sah die Unsichtbaren
im hohlen Harnisch, unverletzlich,
von ihren sterbenden Tieren steigen.
Wie Schiffe, die sich brennend im Meere, wie
sich wunde Wale wälzen, wie Rosse auf
dem Rasen, wälzten sich die Adler
in der blutigen Luft und trieben
bald da, bald dorthin, bis sie der Winterwind
ergriff, und über riesige Eichen trug
er sie, umkreist von Schwärmen zornig
kreischender Krähen, hinweg nach Osten.
Dieses Gedicht ist wie Lernet-Holenias berühmter Roman "Die Standarte", wie seine unvergleichliche Novelle "Der Baron Bagge" (siehe "Mayerling", Erzählungen), wie seine phantastischen Romane "Mars im Widder", "Der Mann im Hut", ja wie viele seiner Werke, Sinnbild des Untergangs. Die Adler, die am Ende zerstört vom Sturmwind fortgerissen werden, gemahnen an die Fahnen Österreichs, zweimal der Vernichtung preisgegeben: 1918, beim Zusammenbruch der Österreich-Ungarischen Monarchie, und zwanzig Jahre später noch einmal. Das Jahr 1938 erst bedeutet für Lernet-Holenia den endgültigen Untergang Österreichs, weil der Anschluß mehr als eine Staatsform vernichtete, nämlich den Staat selbst und seine Kultur, um sie der Banalität und Brutalität preiszugeben.
Es ist kennzeichnend, daß Lernet-Holenia in den "Grafen von Saint-Germain" eine Novelle Hofmannsthals einflicht, den er als "einen unserer größten Dichter" bezeichnet. Thema der Novelle ist der unerbittliche, unausweichliche Tod.
Über Lernet-Holenias Beschäftigung mit dem Untergang der Donaumonarchie und über seine Protesthaltung dem österreichischen Staat gegenüber, wie er sich nach dem 2. Weltkrieg entwickelte, ist viel geschrieben worden. Ja, es hat den Anschein, als hätte man sich darauf geeinigt, Lernet-Holenia mehr oder weniger ausschließlich als einen der letzten Zeugen einer untergegangenen Epoche zu betrachten, der sich in unserer Welt nicht mehr zurechtfinden konnte. Hinweise, daß der Schock über den großen Zusammenbruch 1918 etwas aufriß, das, über die nationale Katastrophe hinausgehend, tiefste seelische Schichten berührte, gibt Armin Ayren in seinem ausgezeichneten literarhistorischen Essay "Der Helweg" (siehe Nachwort zu "Mars im Widder", 2. Auflage in der Reihe "Die Phantastischen Romane"). Ayren beschreibt darin eines der zentralen Motive in Lernet-Holenias erzählerischem Werk: das Motiv der "Todesfahrt", in der Höhlen und Katakomben eine besondere Rolle spielen, ebenso wie Kirchen und Kapellen, die als Zutritt zu dieser Unterwelt dienen. "Der Graf von Saint-Germain" wandelt dieses Motiv des Zusammenbruchs und der "Todesfahrt" auf geheimnisvolle Weise ab. Der Ich-Erzähler Branis hat 1918 den Mord an seinem Rivalen des Esseintes begangen. Er glaubt, den letzten Nachkommen jenes Stammes vernichtet zu haben, der bestimmt ist, das Reich zu überleben. 1938 wird Branis, der erfüllt von Haß- und Schuldgefühlen, gedemütigt und tatenlos die Zeit vor und nach der Besetzung Österreichs erlebte, von einem fanatisierten Pöbel auf dem Wiener Opernring ermordet. Auch Branis hat wie die meisten Lernetschen Helden eine Todesfahrt angetreten. In den Bergen, an deren Fuß sein Besitz liegt, erscheinen ihm nebelverschleierte Gehöfte, bewohnt von vorzeitlichen Geschlechtern. Und auch die schöne Frau, mit der er in Ausübung seines Herrenrechtes eine Nacht verbringt, ist ein Geschöpf dieser Welt zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Leben und Tod. Branis dringt in sie ein, wie der Graf Luna in die Katakomben, wie Nikolaus Toth ("Der Mann im Hut") in die Begräbnisstätte der Nibelungen, wie Wallmoden ("Mars im Widder") in die von Geschützfeuer aufgerissene Erde. All dies Sinnbilder der Sehnsucht eines Menschen, der die Distanz zu den Dingen und Menschen schmerzlich fühlte, nach dem Schoß der Mutter.
Von Frauen und Hexen:
Alexander Lernet-Holenia hatte zahllose Beziehungen zu Frauen, doch sprach er diesen Liebesaffären jede Wichtigkeit ab, betonend, sie hätten mit seinem eigentlichen Wesen nichts zu tun. Es scheint, daß er sich in den meisten Fällen mit Frauen verband, von denen er sicher war, sie würden ihn nicht verstehen, ja man könnte sagen, sie würden ihn nicht "enträtseln". Fast alle waren sie Geschöpfe, wie man sie auch in Lernet-Holenias Werk findet: schön oder lieblich, seltsam gestalt- und wesenlos. Entrückt. Frauen, die man anbetet, oder auch verschmäht und in denen man immer wieder nur sich selbst spiegelt. Frauen als Objekt männlicher Leidenschaft oder Grausamkeit. Manchmal "Wissende" und "Hexen", unheimliche Elemente in der Realität des Männlichen. Im "Grafen von Saint-Germain" aber taucht diese Bauersfrau auf, die mit selbstverständlichem Gleichmut sich Branis hingibt. Eine Frau, über die nachzudenken es sich lohnt, gerade weil wir so wenig - und doch so viel - über sie erfahren. Ist sie die Urmutter, die Lernet-Holenia suchte?
Der Bastard:
Lernet-Holenia scheint sein ganzes Leben lang unter der mangelhaften Beziehung zu seinen Eltern gelitten zu haben. Die Frage, ob er aus einem tiefen Bedürfnis heraus den Mythos seiner geheimnisvollen Herkunft pflegte, sollte gestellt werden, wenn man sich das wenige, das er über sein Elternhaus erzählte, vor Augen führt. Einem Freund gegenüber äußerte er einmal, seine Mutter habe für sein Wesen und seine Begabung nicht das geringste Verständnis aufgebracht. Und aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen geht hervor, daß sein Vater, den er als Kind jeden Sonntag besuchen mußte - die Eltern lebten getrennt -, ihm ebensowenig liebevolle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Die ganze Traurigkeit eines unverstandenen Kindes spricht aus der Schilderung dieses Heimwegs aus der Josefstadt, wo sein Vater wohnte, bis zum Palais Traun im ersten Bezirk, wo er mit seiner Mutter lebte. Von Vater und Mutter nicht geliebt, nicht akzeptiert zu sein: diese tiefe Kränkung scheint Lernet-Holenia nie aufgelöst, nie überwunden zu haben. Sie liegt auf dem Grund seiner distanzierten Haltung, seiner Angst vor dem Verletztwerden, seiner Lust, im Tod den Weg ins Innere des Welten- schoßes zu finden. Sie ist es wohl, die ihn Bilder unwirklich schöner Frauen zeichnen und zugleich den Vater suchen ließ - oder die Vorväter, die Souveräne, von denen der "wissende" hellseherische Bastard in "Der Graf von Saint-Germain" abstammt, oder auch die Götter. Gott.
Pilatus:
1967 veröffentlichte Lernet-Holenia unter dem Titel "Pilatus - ein Komplex" jenen seltsamen Beitrag zur Diskussion des Christus-Problems, der weit darüber hinaus Bedeutung für Leben und Werk dieses großen Dichters zu haben scheint. Das Kernstück des Buches entstammt dem "Grafen von Saint-Germain"; es ist die berühmtgewordene Erzählung Donatis über den imaginären Prozeß des Pontius Pilatus, der wie ein erratischer Block in den verschlungenen Handlungsläufen des Romans liegt.
Pilatus. Der Zweifler. Der Schuldtragende. Als Abschluß der Diskussion der Alumnen sagt Pilatus: "Denn Gott ist nicht die Gewißheit, sondern das Wunder, nicht die Sicherheit, sondern die Gefahr, nicht das Sein, sondern mehr als das Sein! Und niemals, solange seine Kirche stehen wird, werden selbst die Gläubigen aufhören, in den Tiefen ihrer Herzen und in ihren geheimsten Stunden daran zu zweifeln, daß es ihn gibt." Pilatus, das scheint die Figur zu sein, mit der sich Lernet-Holenia deshalb immer wieder auseinandersetzte, weil er sich wohl mit ihm identifizierte. Der Vaterlose - mußte er nicht an Gott zweifeln? Mußte ihm Gott nicht als etwas unerreichbar Erhabenes, "mehr als das Sein" erscheinen, mußte er nicht immer, bis zu seinem tatsächlichen Tod, alle Tode sterben, weil es ihm nicht gelang, die Distanz zu diesem erhabenen Gott-Vater zu überwinden?
Daß es ihm nicht gelang und daß er vielleicht aus diesem Grund sein Leben und Schaffen als fragmentarisch und unvollendbar empfand, findet seinen Ausdruck in einem Gedicht (angeblich von Théophile Gautier), das in den "Grafen von Saint-Germain" eingeflochten ist:
Denn dies ist's, ein Dichter zu sein:
Viel aufzugeben, ja
das Werk auch zuletzt
und das Ungeheure der ungeschriebenen Strophen,
Unzuvollendendes aber
auf immer bewahren zu müssen,
und auf Blättern
aus Elfenbein
Briefe der Liebe
und die Rosengedichte.
Das Dämonengefecht:
An den Beginn des Romans "Der Graf von Saint-Germain", hat Lernet-Holenia in der ersten Niederschrift ein Gedicht des Untergangs gesetzt, das jedoch in keiner der bisher erschienenen Ausgaben enthalten ist:
Ich sah, auf Adlern reitend, geharnischte
Dämonen streiten, sah die gespenstischen,
die leeren Helme, sah die leeren
Panzer sich rühren wie Gliederpuppen.
Ich sah die Zügel, die von den Schnäbeln zu
den leeren Handschuhn gingen, ich sah, vom Schlag
der langen Sporen, die an keinen
Fersen saßen, die Federn stieben.
Ich sah die leeren Ärmel aus goldenem
Brokat, im Flugwind prasselnd, die Bogen ziehn,
ich hörte Pfeile mit gehöhlten
Spitzen schrillen und Sehnen klingen.
Ich sah Kleinode drohen, den Schulterschutz
wie Schwingen schlagen, hörte die Rüstungen
aus Kuhhautschuppen wie zermalmtes
Eis an wogenden Ufern klirren.
Ich sah die Adler steigen und sinken, sah
sie sich zerfleischen, sah die Unsichtbaren
im hohlen Harnisch, unverletzlich,
von ihren sterbenden Tieren steigen.
Wie Schiffe, die sich brennend im Meere, wie
sich wunde Wale wälzen, wie Rosse auf
dem Rasen, wälzten sich die Adler
in der blutigen Luft und trieben
bald da, bald dorthin, bis sie der Winterwind
ergriff, und über riesige Eichen trug
er sie, umkreist von Schwärmen zornig
kreischender Krähen, hinweg nach Osten.
Dieses Gedicht ist wie Lernet-Holenias berühmter Roman "Die Standarte", wie seine unvergleichliche Novelle "Der Baron Bagge" (siehe "Mayerling", Erzählungen), wie seine phantastischen Romane "Mars im Widder", "Der Mann im Hut", ja wie viele seiner Werke, Sinnbild des Untergangs. Die Adler, die am Ende zerstört vom Sturmwind fortgerissen werden, gemahnen an die Fahnen Österreichs, zweimal der Vernichtung preisgegeben: 1918, beim Zusammenbruch der Österreich-Ungarischen Monarchie, und zwanzig Jahre später noch einmal. Das Jahr 1938 erst bedeutet für Lernet-Holenia den endgültigen Untergang Österreichs, weil der Anschluß mehr als eine Staatsform vernichtete, nämlich den Staat selbst und seine Kultur, um sie der Banalität und Brutalität preiszugeben.
Es ist kennzeichnend, daß Lernet-Holenia in den "Grafen von Saint-Germain" eine Novelle Hofmannsthals einflicht, den er als "einen unserer größten Dichter" bezeichnet. Thema der Novelle ist der unerbittliche, unausweichliche Tod.
Über Lernet-Holenias Beschäftigung mit dem Untergang der Donaumonarchie und über seine Protesthaltung dem österreichischen Staat gegenüber, wie er sich nach dem 2. Weltkrieg entwickelte, ist viel geschrieben worden. Ja, es hat den Anschein, als hätte man sich darauf geeinigt, Lernet-Holenia mehr oder weniger ausschließlich als einen der letzten Zeugen einer untergegangenen Epoche zu betrachten, der sich in unserer Welt nicht mehr zurechtfinden konnte. Hinweise, daß der Schock über den großen Zusammenbruch 1918 etwas aufriß, das, über die nationale Katastrophe hinausgehend, tiefste seelische Schichten berührte, gibt Armin Ayren in seinem ausgezeichneten literarhistorischen Essay "Der Helweg" (siehe Nachwort zu "Mars im Widder", 2. Auflage in der Reihe "Die Phantastischen Romane"). Ayren beschreibt darin eines der zentralen Motive in Lernet-Holenias erzählerischem Werk: das Motiv der "Todesfahrt", in der Höhlen und Katakomben eine besondere Rolle spielen, ebenso wie Kirchen und Kapellen, die als Zutritt zu dieser Unterwelt dienen. "Der Graf von Saint-Germain" wandelt dieses Motiv des Zusammenbruchs und der "Todesfahrt" auf geheimnisvolle Weise ab. Der Ich-Erzähler Branis hat 1918 den Mord an seinem Rivalen des Esseintes begangen. Er glaubt, den letzten Nachkommen jenes Stammes vernichtet zu haben, der bestimmt ist, das Reich zu überleben. 1938 wird Branis, der erfüllt von Haß- und Schuldgefühlen, gedemütigt und tatenlos die Zeit vor und nach der Besetzung Österreichs erlebte, von einem fanatisierten Pöbel auf dem Wiener Opernring ermordet. Auch Branis hat wie die meisten Lernetschen Helden eine Todesfahrt angetreten. In den Bergen, an deren Fuß sein Besitz liegt, erscheinen ihm nebelverschleierte Gehöfte, bewohnt von vorzeitlichen Geschlechtern. Und auch die schöne Frau, mit der er in Ausübung seines Herrenrechtes eine Nacht verbringt, ist ein Geschöpf dieser Welt zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Leben und Tod. Branis dringt in sie ein, wie der Graf Luna in die Katakomben, wie Nikolaus Toth ("Der Mann im Hut") in die Begräbnisstätte der Nibelungen, wie Wallmoden ("Mars im Widder") in die von Geschützfeuer aufgerissene Erde. All dies Sinnbilder der Sehnsucht eines Menschen, der die Distanz zu den Dingen und Menschen schmerzlich fühlte, nach dem Schoß der Mutter.
Von Frauen und Hexen:
Alexander Lernet-Holenia hatte zahllose Beziehungen zu Frauen, doch sprach er diesen Liebesaffären jede Wichtigkeit ab, betonend, sie hätten mit seinem eigentlichen Wesen nichts zu tun. Es scheint, daß er sich in den meisten Fällen mit Frauen verband, von denen er sicher war, sie würden ihn nicht verstehen, ja man könnte sagen, sie würden ihn nicht "enträtseln". Fast alle waren sie Geschöpfe, wie man sie auch in Lernet-Holenias Werk findet: schön oder lieblich, seltsam gestalt- und wesenlos. Entrückt. Frauen, die man anbetet, oder auch verschmäht und in denen man immer wieder nur sich selbst spiegelt. Frauen als Objekt männlicher Leidenschaft oder Grausamkeit. Manchmal "Wissende" und "Hexen", unheimliche Elemente in der Realität des Männlichen. Im "Grafen von Saint-Germain" aber taucht diese Bauersfrau auf, die mit selbstverständlichem Gleichmut sich Branis hingibt. Eine Frau, über die nachzudenken es sich lohnt, gerade weil wir so wenig - und doch so viel - über sie erfahren. Ist sie die Urmutter, die Lernet-Holenia suchte?
Der Bastard:
Lernet-Holenia scheint sein ganzes Leben lang unter der mangelhaften Beziehung zu seinen Eltern gelitten zu haben. Die Frage, ob er aus einem tiefen Bedürfnis heraus den Mythos seiner geheimnisvollen Herkunft pflegte, sollte gestellt werden, wenn man sich das wenige, das er über sein Elternhaus erzählte, vor Augen führt. Einem Freund gegenüber äußerte er einmal, seine Mutter habe für sein Wesen und seine Begabung nicht das geringste Verständnis aufgebracht. Und aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen geht hervor, daß sein Vater, den er als Kind jeden Sonntag besuchen mußte - die Eltern lebten getrennt -, ihm ebensowenig liebevolle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Die ganze Traurigkeit eines unverstandenen Kindes spricht aus der Schilderung dieses Heimwegs aus der Josefstadt, wo sein Vater wohnte, bis zum Palais Traun im ersten Bezirk, wo er mit seiner Mutter lebte. Von Vater und Mutter nicht geliebt, nicht akzeptiert zu sein: diese tiefe Kränkung scheint Lernet-Holenia nie aufgelöst, nie überwunden zu haben. Sie liegt auf dem Grund seiner distanzierten Haltung, seiner Angst vor dem Verletztwerden, seiner Lust, im Tod den Weg ins Innere des Welten- schoßes zu finden. Sie ist es wohl, die ihn Bilder unwirklich schöner Frauen zeichnen und zugleich den Vater suchen ließ - oder die Vorväter, die Souveräne, von denen der "wissende" hellseherische Bastard in "Der Graf von Saint-Germain" abstammt, oder auch die Götter. Gott.
Pilatus:
1967 veröffentlichte Lernet-Holenia unter dem Titel "Pilatus - ein Komplex" jenen seltsamen Beitrag zur Diskussion des Christus-Problems, der weit darüber hinaus Bedeutung für Leben und Werk dieses großen Dichters zu haben scheint. Das Kernstück des Buches entstammt dem "Grafen von Saint-Germain"; es ist die berühmtgewordene Erzählung Donatis über den imaginären Prozeß des Pontius Pilatus, der wie ein erratischer Block in den verschlungenen Handlungsläufen des Romans liegt.
Pilatus. Der Zweifler. Der Schuldtragende. Als Abschluß der Diskussion der Alumnen sagt Pilatus: "Denn Gott ist nicht die Gewißheit, sondern das Wunder, nicht die Sicherheit, sondern die Gefahr, nicht das Sein, sondern mehr als das Sein! Und niemals, solange seine Kirche stehen wird, werden selbst die Gläubigen aufhören, in den Tiefen ihrer Herzen und in ihren geheimsten Stunden daran zu zweifeln, daß es ihn gibt." Pilatus, das scheint die Figur zu sein, mit der sich Lernet-Holenia deshalb immer wieder auseinandersetzte, weil er sich wohl mit ihm identifizierte. Der Vaterlose - mußte er nicht an Gott zweifeln? Mußte ihm Gott nicht als etwas unerreichbar Erhabenes, "mehr als das Sein" erscheinen, mußte er nicht immer, bis zu seinem tatsächlichen Tod, alle Tode sterben, weil es ihm nicht gelang, die Distanz zu diesem erhabenen Gott-Vater zu überwinden?
Daß es ihm nicht gelang und daß er vielleicht aus diesem Grund sein Leben und Schaffen als fragmentarisch und unvollendbar empfand, findet seinen Ausdruck in einem Gedicht (angeblich von Théophile Gautier), das in den "Grafen von Saint-Germain" eingeflochten ist:
Denn dies ist's, ein Dichter zu sein:
Viel aufzugeben, ja
das Werk auch zuletzt
und das Ungeheure der ungeschriebenen Strophen,
Unzuvollendendes aber
auf immer bewahren zu müssen,
und auf Blättern
aus Elfenbein
Briefe der Liebe
und die Rosengedichte.